Mit dem letzten Licht wählten wir notgedrungen den kleinen, wir dachten, unbelebten, Bahnhof von Sentinel de las Botegas, der in der Region der „weißen Dörfer“ liegt. Meine, in der Pfanne brutzelnden Frikadellen begleitete aber schon stündlich das Pfeifen und Bahnübergangsgeklingel, mit dem der Zug aus Algeciras durchrauschte. Aber der stellte keine Gefahr da. Trotz des Krachs schliefen wir gut.
Am nächsten Morgen setzten wir den Weg nach Ronda fort, es waren nur noch 11 km. Mit etwas Glück fanden wir einen Parkplatz auf einem leeren Grundstück in fußläufiger Entfernung vom Beginn der Fußgängerzone, deren abschüssige Straße uns direkt zur ältesten Stierkampfarena Spaniens führte (1783, hier wurden die Regeln des Stierkampfs entwickelt). In der Nähe ballten sich die Touristen, also mussten wir richtig sein. Ein Aussichtspunkt zeigte erstmal nach Süden, dann ging es um den Häuserblock herum zum Blick auf die Brücke. An jedem Punkt spielten Straßenmusikanten, erst klassisch Geige, der nächste Konzertgitarre Flamenco, das machte die Stimmung perfekt. Auf der Altstadtseite öffnete sich zusätzlich der Blick auf eine kleine arabische Brücke.
Wir bummelten weiter durch die Gässchen weiß getünchter Häuser. Ein schweres Erdbeben zerstörte 1580 zahlreiche Bauten. Weniges ist also älter, z.B. sahen wir das Minarett von San Sebastián, aus drei Stockwerken, die beiden untersten wurden noch in der moslemischen Epoche im 14. Jahrhundert errichtet. Die oberste Etage entstand bereits nach der christlichen Wiedereroberung der Stadt im späten 15. Jahrhundert. Nach der Reconquista wurde das Minarett als Glockenturm für eine Kirche genutzt.
Ich kaufte in einem kleinen Antiquitätenlädchen, das auf alte Fliesen spezialisiert war, eine maurische Fliese aus Granada und musste mich schwer zurückhalten, nicht den ganzen Laden auszurauben. Im nächsten Winkel trafen wir auf die Kirche Santa Maria la Major. Ein solches Sammelsurium an Baustilen kann man sich kaum ausdenken: im Ursprung eine Moschee, wovon einzelne Bogen und die unteren Teile des Minaretts zeugen, dann in gotische Kirche umgewandelt, dann Renaissancechor mit Holzgestühl mitten im Kirchenschiff wie ein Kasten. Hier und da sind Bögen gekappt, Säulen und Friese abgeschnitten. Der Altar in Form eines Baldachins mit separater Marienfigur, die beleuchtet wird, wirkt wie ein umhüllender Käfig. Die Kompositkapitelle sehen sehr klotzig aus und sind noch durch zusätzliches Gebälk erhöht. Im Turm steigt man bis auf Deckenumgangshöhe, mir wurde leicht komisch beim Runterschauen. Besser erträglich war der Umgang außen mit den Blicken auf die kleinen Dachterrassen und das weiße Häusermeer. Satt und erschöpft von den vielen Eindrücken und einem gemischten Tapasteller (sehr fragwürdig), landeten wir wieder beim Auto und verließen die Stadt Richtung Westen. Ein Stück schaffen wir noch auf gewundener guter Straße bis Benarraba, einem kostenlosen (sofern man keinen Strom braucht) Stellplatz für sechs Womos.
Wenn man schon in der Region der weißen Dörfer ist, muss man sich eines davon wenigstens zu Gemüte führen. Es bot sich Gaucín an, der nächste Ort mit viel Leerstand und zahlreichen angesiedelten Briten. Bemerkenswert fanden wir die Aussicht, vom Krematorium die verwinkelten Gässchen und den Friedhof. Wenige parallele Strässchen sind durch zahllose Treppen verbunden. In diesem Ort teilte sich die Durchgangsstraße. Diejenige, die zur Küste führte, war sehr steil und serpentinenreich.
Mittags lag der Felsen von Gibraltar vor uns. Da der im Reiseführer angegebene Stellplatz weder ausgeschildert noch nach Beschreibung auffindbar war, rasteten wir in Sichtweite der Flugplatzlandebahn auf einem verlassenen Firmenparkplatz am Stadion, samstags kein Problem.
Nach Kaffee und Mittagsschlaf bei windigen 27 °C wurden wir nach erneutem Anlauf auf der letzten möglichen Route, Abzweig „Hafen“ fündig. Dicht an dicht stehen bestimmt dreißig Womos, voraus der Blick auf Segler, nach hinten auf den Felsen. Ab und an hört und sieht man zumindest das Leitwerk eines landenden oder startenden Flugzeugs. Wir brauchen noch Brot für den Sonntag, aber wir erreichen nichts, die Läden sind geschlossen und auf mir lastet die Schwüle. Mein Kreislauf weigert den reibungslosen Dienst. Dann müssen wir eben morgen im Hafen frühstücken. Hätten wir nur gewusst, dass gleich hinter der Passkontrolle ein Supermarkt offen hatte! Das Frühstück war nämlich selten mager: jeder ein Riesenbrötchen, zwei Löffel voll Butter, ein Löffel Marmelade und eine Tasse Kaffee.
Wir trödeln ein bisschen herum, weil es noch bedeckt und kühl ist. Gegen Mittag kommt zwar die Sonne verschleiert durch, lange Hosen sind trotzdem angesagt. Wir schnallen den Rucksack um und machen uns zu Fuß auf. Die spanischen Grenzer sind sehr nett („Wir sind Schengen“), die britischen winken uns freundlich durch und verweigern einen Stempel („only non-Europeans“). Dann sind wir drin und ich fühle mich augenblicklich – heimisch, anders kann man es nicht nennen. Ich muss in einem früheren Leben britisch gewesen sein. Schon beim ersten Londonbesuch 1987 hatte ich das Gefühl, nach Hause zu kommen. Wie dem auch sei, der Sprit kostet 1,56 Euro und wir hatten gerade vollgetankt. Schade. Es ist uns ganz recht, dass sonntags nur Lebensmittelläden geöffnet haben, denn wegen der Edelshoppingmeile ballen sich sonst die Touristen. Wir haben sie auf dem Stellplatz schon die Beweistüten schlenkern sehen. Wozu sollte ich jetzt etwas kaufen, was ich nicht brauche, bloß, weil es steuerfrei ist? Bescheuert. Wir leisten uns aber Cappuccino und einen Edelbrownie mit Vanilleeis in den Kasematten. Weil sich die Tischnachbarn Teller mit Undefinierbarem bringen lassen, das interessant aussieht, fragen wir die Kellnerin, was es ist. „Das typische Sonntagsessen“, sagt sie. „Sandero“. In den Google-Translator gebe ich ein: Sandero Gibraltar essen. Als Ergebnis bekomme ich Dacia-Läden in Essen angezeigt. Shit.
Wenn die Ampel auf Rot steht, quert ein Flugzeug die Straße. Auf dem Rückweg kaufen wir direkt an der Grenze ein, viele Waren typisch englisch. Am Preis sehen wir nichts billiger als bei uns, aber auch nicht teurer durch den Brexit. Müde erreichen wir unser Zuhause, jedoch weniger angestrengt als nach anderen Besichtigungen. Morgen geht es rund, denn der Felsen und die Makaken rufen.
Herrlich ausgeruht packen wir die Siebensachen, heute ohne Rucksack, Tüte oder Hut. Das könnte die Affen nur reizen. Als wir feststellen, dass eine Fahrt mit dem Linienbus von der Grenze bis zur Seilbahn schon 9 Euro kostet, wählen wir den Fußweg. Wie erwartet, ist die Main Street voll, weshalb wir eine Parallelstraße wählen. Dort sind nur wenige kleine Lädchen, Handwerker, eine Bibliothek, aber auch der Gerichtshof mit umliegenden Rechtsanwaltskanzleien. Aus dem Foyer des Gerichts tönt lauter Streit. Sieht aus, als ob hier ein Ehemann protestiert, Frau und Rechtsanwalt wollen ihn beschwichtigen, eine Angestellte ruft Verstärkung per Funk. Ums Eck rum sehen wir King’s Chapel und gegenüber den Gouverneurspalast (recht klein, die Kanonen tragen Häubchen). Wo ist die Wache mit Bärenfellmützen? (Angeblich gibt es hier auch eine Wachablösung). Seitlich vom Platz verlockt uns ein britisches Pub mit Fish & Chips zur Einkehr. Die Kneipe heißt: Zum wütenden Mönch. Mir fällt auf, dass die Postkästen uneinheitlich sind, mal die Initialen Elisabeths II., mal die ihres Vaters Georg VI., mal Gibraltar – nicht so ganz up-to-date. Charles will not be amused, I guess. Die Autos fahren auf derselben Straßenseite wie bei uns.
Rundum zufrieden, aber – wie befürchtet – mit Bettschwere für ein Mittagschläfchen (was jetzt gar nicht passt) vollenden wir wenig später das südliche Ende der Main Street mit der schon aufgehängten Weihnachtsbeleuchtung, durchqueren das Stadttor und stehen Schlange vor der Seilbahn. Der Seniorenrabatt ist lächerlich, der Preis gepfeffert, aber wer würde jetzt noch umkehren? Gibraltar sehen und löhnen, heißt die Devise. Die 400 Höhenmeter sind schnell überwunden, schon während der Fahrt sehen wir unten die ersten Affen. Und oben geht es rund.
Muss das schön sein!
Manche Frauen sind verrückt und provozieren die Tiere, ihnen auf den Rücken zu springen und füttern, obwohl letzteres mit bis zu 5000 Euro (wer kontrolliert hier?) bestraft wird. Alle Wege, die wir gehen wollen, führen ins Naturreservat und dort wird nochmal abkassiert. Unser Pech, die Sicht ist heute sehr mies, die Wolken ziehen über die Kante (was auch dramatisch aussieht) – man erkennt mit Ach und Krach gerade mal die Sandbuchten und die auf Reede liegende Schiffe, auf der Hafenseite zwei Kreuzfahrtschiffe., aber von Afrika keine Spur Die Battery ist wegen Renovierung geschlossen, ebenso der Tunnel auf dieser Seite. Für weitere Tunnel reichen unsere Kräfte und auch die Zeit nicht, alles in allem könnte man 10 km laufen. Aber auch so kommen wir auf unsere Kosten. Uns läuft der Schweiß unter den Jacken den Rücken runter, aber ohne Jacke würde man sich schnell im Wind erkälten. Mit glühenden Köpfen warten wir zur Rückfahrt wieder in der Schlange und amüsieren uns über einen Affen, der mit Schluckauf auf dem Geländer hockt und nur Augen für Plastiktüten hat.
Dieses Wochenende war Zeitumstellung und es beginnt zu dämmern, als wir auf dem Rückweg immer mehr wegen Halloween verkleideten Kindern an der Hand ihrer fürchterlich geschminkten Mütter begegnen. Dabei würden viele der letzteren ganz ohne Schminke den Zweck erreichen, denn uns fiel hier noch mehr als bisher auf, dass die Frauen jeglichen Alters offenbar der Presswurst im Kunstdarm frönen. Wir bewundern die Dehnbarkeit hiesiger Textilfasern und den Wagemut, der Michelinmännchen vor Neid erblassen ließe. Man stelle sich die Venus von Willendorf im Minirock vor. Bevor wir Gibraltar Ade! sagen, wollten wir unbedingt noch ein startendes Flugzeug vor Felsenkulisse fotografieren, aber es kam natürlich erst dann eines, als wir die Kamera weggelegt hatten. Umso bedrückender der Zaun zur Festung Europa.