Ein Vormittag führte uns zusammen mit Frau Brorsen zum Markt am Bab el-Futuh. Dieser ganz spezielle Markt bietet Knoblauch und Zwiebeln an. In großen Haufen stehen sie zum Verkauf und der Geruch wirkt betäubend. Durch ein Labyrinth von Gassen suchten wir das Haus des Rektors der Al Ashar-Moschee (1698). Es war bescheidener eingerichtet als das Gayer Anderson, aber im Prinzip sehr ähnlich. Nach dem Mittagessen holte uns Adel ab und führte uns in den Zoo. Den Wärtern steckte er Bakschisch zu, damit ich die einzelnen Viecher füttern durfte. Auf meine Bitte hin besuchten wir die Sphinx, die uns am ersten Tag durch die Lappen gegangen war. Bei der Gelegenheit schloss ich mich einer Neckermanngruppe in die Cheopspyramide an, durch Treppen und Gänge bis in die Sargkammer. Wäre man mal allein, gruselte einen das Bewusstsein, wie viele Tonnen Stein über einem lagern, aber Gänge und Kammern sind kahl und die Stimmen des ständigen Besucherstroms lenken ab. Zu Füßen der Sphinx ist alles aufgewühlt, in die unterirdischen Kammern kommt man nicht rein.
Adel wollte uns Besonderheiten zeigen, aber er ließ sich nicht dazu verleiten, uns ins Mokattamgebirge zu kutschieren (militärisches Sperrgebiet). Dort soll es noch versteinerte Wälder geben. Stattdessen führte er uns ins Lederviertel, wo er früher als Streifenpolizist einmal Dienst tat. Dort traf er einen alten Bekannten, der uns eine Cola spendierte. Angeblich sei er Millionär, lief aber herum wie ein Mann der Mittelschicht. Er zeigte uns seinen Betrieb. Ein rechter Mief hing in der Luft. Seine „Fabrik“ bestand aus einem Raum, in dessen Boden in einer milchigen Brühe schwamm, mehrere Steinbottiche eingelassen waren. Auf Holzplanken balancierte man von Bottich zu Bottich. In den Behältern weichen die Felle in chemischen Laugen, damit sich die Haare ablösen und gerben. Leder ist in Ägypten sehr billig. Die Gärten nilabwärts, die uns Adel zeigen wollte, hatte Militär mit Beschlag belegt.
Auf der Rückfahrt fuhr neben uns ein Zug, der von Menschen wimmelte wie von Ameisen. Dicht gedrängt saßen sie auf den Puffern, der elektrischen Lok und auf den Dächern der Waggons. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind alle so überbelegt. Manche Busse fahren mit Schlagseite, weil Trauben von Menschen an jeder greifbaren Leiste hängen. Mitten unter der Fahrt springen manche ab, so ist es für jeden Autofahrer, der hinter einem Bus fährt, eine Fügung Allahs, wenn ihm keiner vor die Räder fällt.
Adel überredete uns, mit ihm nach Alexandria zu kommen. Früh 6 Uhr holte er uns ab. Die Straße war gut ausgebaut, bei jeder Ortsabzweigung stand ein Schild: Für Ausländer Abbiegen verboten. Adel fuhr uns trotzdem kurz durch Tanta, damit wir auch seine Geburtsstadt sehen sollten. Ungefähr gegen 10 Uhr erreichten wir das Mittelmeer und mit ihm die ersten Wolken seit unserer Abfahrt aus Europa. Da man uns gesagt hatte, Alexandria sei europäischer eingestellt, hatte ich es mal gewagt, ein Kleid anzuziehen. Es war aber auch merklich kühler. Mein Kleid erregte auch hier Aufsehen. Adel übersetzte verschiedene Kommentare. Ein alter Mann betete zu Allah, dass er Mohamed nochmal schicke, damit er mich sehe. Wir besichtigten zunächst die polnische Ausgrabung Kom el-Dikka: die Thermen, das Amphitheater, in dem gerade ein Filmteam beschäftigt war. Anschließend besuchten wir Adels jüngste Schwester und aßen dort Crevetten, Hähnchen, Molokhia, Oliven und Creme Karamelle. Nachmittags war sein Schwager dran, Vizedirektor des Museums für moderne Kunst, ein äußerst gebildeter Mann. Er zeigte uns seine selbst gemalten Bilder, seine Sammlung an Drucken. Wir verabredeten ein Treffen für den nächsten Tag. Nach einem Kinobesuch verfrachtete uns Adel in die Wohnung seiner Mutter, die gerade zur Kur war. Die Atmosphäre dort war eigentlich erschütternd. Wie anscheinend üblich, waren die Wände nur gekalkt, die Räume dürftig möbliert, im Wohnzimmer z.B. Sessel mit zerrissenen Bezügen, ein paar alte Fotos an den Wänden. Alles wirkte wie frisch nach einem Umzug, wenn noch kaum etwas eingerichtet ist. Es war aber Normalzustand. Adel harrte umsonst die ganze Nacht auf die Wirkung seiner eindeutigen Avancen. Abdels Heiratsantrag am nächsten Tag lief ebenso ins Leere. Dennoch zeigte er uns das Antikenmuseum, das im Vergleich zum Cairoer Archäologischen Museum viel besser in Schuss war. Eine Stippvisite spendeten wir dem Goetheinstitut, wo Adel Deutsch lernt, und dem Museum für moderne Kunst, durch das sein Schwager führte. Zum Abschied schenkte er mir Hefte über einheimische Künstler.
Das zufällig 1960 entdeckte Amphitheater wurde bis ins 7.Jh. n. Chr. benutzt.
Da ich am Vortag mit Entsetzen gemerkt hatte, dass meine Kamera den Film nicht transportiert hatte, fuhren wir schnell noch mal zu den Ausgrabungen Kom el Shuqafa, um wenigstens diese Bilder zu retten. Die Katakomben von Kom El Shoqafa besitzen eine Wendeltreppe, die häufig zum Transport verstorbener Leichen in der Mitte genutzt wurde. Sie führt hinunter zu den Gräbern, die aus dem 2. bis zum 4. Jahrhundert stammen. Um 14 Uhr bestiegen wir den Zug nach Cairo, der uns mit Klimaanlage nonstop in zwei Stunden zurückbrachte.
Den 4. April verbrachte ich das letzte Mal im Archäologischen Museum, und zwar ausschließlich bei den wichtigsten Stücken und den Särgen. Deswegen hatte ich extra eine Taschenlampe mitgebracht. Welche Schätze! Und wie vergammelt und unbeachtet. Alle müssen vorbei, wenn sie zu den Mumien wollen, aber kaum einer verweilt bei ihnen, denn ohne Taschenlampe ist faktisch nichts zu sehen. Den Rest des Tages verbrachten wir bei Frau Brorsen. Ein Besuch im DAI brachte nicht viel, weil der maßgebliche Mann, Dr. Arnold, gerade nicht im Haus war. Ich wollte mich erkundigen, was ich tun müsste, um an einer Ausgrabung teilnehmen zu können. Stattdessen bummelte ich unverrichteter Dinge durchs Botschaftsviertel Zamalek. Am Nachmittag ging es mit Zeichenzeug in die Al Ahsar-Moschee. Gerade hatte ich mich auf dem Boden niedergelassen, da kam schon ein Diener an. Ich müsse da weg, weil die Gläubigen abgelenkt würden. Als Frau dürfe ich nur am Rand sitzen. Er blieb dann die ganze Zeit bei mir und guckte mir über die Schulter. Als ich fertig war, überredete er mich zu einem Minarettbesuch. Ein wirklich lohnender Blick von oben.
Währenddessen war Vater durch den Suq herumgeschlendert. Aus einem Juwelierladen war ein Verkäufer herausgeschossen: „Kommen Sie herein! Ihre Madam ist doch gerade in der Moschee! Suchen Sie etwas für sie aus. Schauen Sie hier etc.“ Woher er sein Wissen hatte, haben wir nicht herausbekommen. Nachdem ich mit dem Zeichnen so weit war, gingen wir zu diesem Laden zurück und der Besitzer kam auf seine Kosten. Er überschlug sich beinahe: „I like the face of your wife! Daughter? It’s not possible! She is so beautiful, beautiful…“
Ein ganz besonderes Abenteuer beinhaltete der Kamelmarkt [1995 aus der Stadt 35 km weiter nw Cairos verlegt]. Wir fuhren mit dem Taxi, weil Frau Brorsen vom ersten Besuch mit dem eigenen Auto üble Erinnerungen hatte. Damals war ihr ein Kind vors Auto gelaufen. Obwohl nichts Schwerwiegendes passiert war, verfolgte sie anschließend ein Lastwagen voll aufgebrachter Leute durch die halbe Stadt, bis sie ihn abhängen konnte. Eine eigenartige Stimmung herrschte in diesem Viertel. Durch Zufall hatten wir beobachtet, wie sich an einer Wasserstelle zwei Frauen zankten. Ein Mann sah, dass wir zuschauten und kam mit drohender Faust in Richtung Auto. Sogar unserem Taxifahrer wurde mulmig.
Die Kamele hatten ein Bein hochgebunden. Trotzdem können sie auf drei Beinen eine derartige Geschwindigkeit entwickeln, dass wir aufpassen mussten, nicht überrannt zu werden. Auch Esel, Maultiere, Schafe, Ziegen und diverses Zaumzeug wurde angeboten. Allmählich folgten uns zwei Soldaten. Unauffällig hielten sie uns zudringliche Kinder vom Leib oder beantworteten unsere Fragen über Preise etc. Neue Kamele hockten auf den Ladeflächen der LKW, verkaufte wurden abtransportiert. Viel Betrieb war auf dem Platz. Als die Hitze unerträglich wurde, suchten wir uns ein Taxi, was in der abgelegenen Gegend länger dauerte. Abends erfreute uns wieder ein Hauskonzert bei den Bekannten Frau Brorsens.
7. April: Besuch des Islamischen Museums, in dem man gut und gerne auch mehrere Tage zubringen kann. Inzwischen war Khaled aus Luxor zu einem Urlaub nach Cairo gekommen. Abends trabte er mit seinem Onkel an, der Maler ist, zwecks Besuchs einer Gemäldeausstellung, die anderntags eröffnet werden sollte. Auf seine Anregung hin suchten wir noch einen weiteren Künstler auf, der seinen Beruf aufgegeben hatte, um mit seiner sechsköpfigen Familie von minimaler staatlicher Stütze und der Kunst zu leben. Trotzdem machte das Ehepaar einen ausgeglichenen Eindruck, die Wohnung allerdings war schauderhaft ungemütlich. Höhepunkt des Abends war das Klavierspiel des Künstlers, zu dem seine Frau alte maurische Folklore aus der andalusischen Zeit sang. Ungemein melodisch und rhythmisch sogar für unsere Ohren.
Am 8. April 1973 saß ich zum ersten Mal in meinem Leben auf einem Pferd. Frau Brorsen brachte uns zu einem kleinen Vorort nahe den Pyramiden. Wir bestiegen die Tiere, der kleine Nasser war unser Führer. Zunächst ließ sich alles ganz gut an, aber am Wüstenrand gab Nasser meinem Pferd die Peitsche und das Vieh raste los, mit mir als hilflosem Spielball. Das war Slapstick reif, Nasser machte zwar vor, was ich tun sollte, indem er kommandierte: „Up – down, up – down“ aber es war, als sei alle Kraft aus meinen Muskeln gewichen. Beim Galopp war ich froh, mich überhaupt oben halten zu können. Mein Vater ritt voraus. Als ich sah, wie seine Brille aus seiner Tasche rutschte, schrie ich. Sein Pferd blieb stehen.
Ärgerlich rief er zurück: „Wie soll ich den blöden Gaul wieder zurückbringen? Der will nicht wenden. Versuch dem Führer zu sagen, ob er sie aufheben kann.“
Das klappte. Frau Brorsen ritt in gekonnten Sprüngen weit weg durch die Wüste. Mit Todesverachtung folgten wir ihr nach Sahara-City. Kurz vorher änderte Vaters Reittier die Richtung. Trotz meiner eigenen Schmerzen musste ich über seinen Anblick lachen. Sein Pferd galoppierte und galoppierte und er hilflos schreiend: „Der läuft woandershin. Wie soll ich den aufhalten?“
Nasser hatte alle Mühe ihn zurückzuholen. Völlig durchgeschüttelt gönnten wir uns in Sahara City eine Rast, die leider von zahllosen Fliegen beeinträchtigt war. Unsere Pferde waren Schweiß bedeckt. Ob sie unsere Zuckergabe über die Beanspruchung hinwegtröstete, bezweifle ich mal. Wenn ich gewusst hätte, wie es weiterging, dann wäre ich nicht so locker aufgestiegen. Im Stall verlockte erstens die Futterkrippe und die Befreiung von dieser blöden Last. Außer ein paar Sekunden Trab zwischendurch, der ebenfalls eine Tortur war, bestand der Rückritt nur aus Galopp. Zum Glück bockte er nicht. Als wir einer größeren Reitergruppe aus Franzosen begegneten, hoffte ich, das Tier werde langsamer. Aber Sense. Mir war schließlich alles egal. Meine Innereien waren durchgeschüttelt, krampfhaft klammerte ich mich beidhändig am Sattelknauf fest. Im Vorbeifliegen registrierte ich einen lebenden Skarabäus im Sand. Mir war danach den Boden zu küssen, als ich mit zitternden Knien beim Stall festen Boden unter den Füßen hatte. Das Pferd müsste eigentlich für eine Rücken-OP fällig gewesen sein.
Erst im Hotel checkte ich die Folgen der Strapaze: Die Innenseiten beider Oberschenkel zierten schwarze Blutergüsse von ca. 10 cm Durchmesser, der Steiß war dazu abgeschabt, obwohl ich auf Frau Brorsens Rat hin eine Binde als Dämpfer in die Unterhose geklemmt hatte. Ich war immer auf den hochgezogenen hinteren Rand des Sattels geknallt. Meine Mutter war entsetzt, als sie zuhause die schwarz unterlaufene Rückseite sah, die mir erst nach einer Woche erlaubte, ohne Schmerzen auf dem Rücken zu liegen.
Am letzten Abend brachte uns Adel zum Flughafen. Zügig verlief die Abfertigung, nur eine halbe Stunde saßen wir zwischen Beduinen im Transitraum, dann war unsere Maschine schon bereit. Den Flug konnte ich diesmal genießen: Die Maschine besaß zwar keine Monitore, auf denen man die Flugroute hätte verfolgen können, trotzdem identifizierten wir Oasen, Libyen, Kreta, Athen, Bulgarien. In Berlin-Schönefeld mussten wir lange auf die Koffer warten. Endlich brachte uns der Flughafenbus nach Westberlin. Wehmütig dachten wir an die lauen Nächte bei Sheikh Ali, die vollen Straßen in Cairo und die aufgeschlossenen Menschen.